Langsam schwindet die Hoffnung, noch Überlebende zu bergen … lesen Sie Tag 6 der Lagerstory!
Einsame Tagträume im Fort
Die fremdartigen Geräusche in der Nacht waren inzwischen vertraute Musik in meinen Ohren und so standen wir am Morgen ausgeschlafen und erholt auf. Nach dem Frühstück machten wir uns wie besessen an die Arbeit! Und so stand nach wenigen Tagen das prächtige Gebäude direkt vor den Felsenhöhlen. Arbeit zählte nun zu unserer täglichen Beschäftigung. Ich weiß auch nicht, wie dieser Wandel zu Stande gekommen war: Kaum hatten wir das aus Palmwedel geflochtene Dach über dem Kopf, bekamen wir fast heimische Gefühle. Jeder Baum, jede Pflanze und jede Höhlung in den Felsen wurde mir vertraut. Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis, unser Hab und Gut besser zu schützen. Dazu erarbeitete ich mit Mr. Robinson, den ich inzwischen nur noch „Robinson“ nannte, einen richtigen Plan. Gemeinsam begannen wir einen möglichst hohen Palisadenzaun zu errichten. Holz gab es in unserer nächsten Umgebung in Hülle und Fülle. Also machte ich mich mit Bogdan daran junge Bäume zu fällen und sie als Pfähle zu präparieren. In den ersten Tagen schufteten wir beinahe ohne Unterbrechung von Dämmerung bis Dämmerung. Nur für kurze Pausen gingen wir hinunter zum Fluss um uns zu erfrischen. Erst als an unseren Händen Schwielen aufplatzten und brennende Schmerzen verursachten, unterbrachen wir die Arbeit. Plötzlich hatte ich wieder Zeit zum Nachdenken. Ich musste an den verstorbenen Señor Ricardo Cruz denken, an Kosta und Helmut, welche die Insel mit einem Floß verließen und an Olaf und Mario. Sie hatte seit dem Absturz niemand mehr gesehen. Es waren bedrückende und schwere Gedanken. Immer öfter verzog ich mich mit der Bibel in einen kleinen Unterschlupf, den ich mir unweit des Strandes mit der Zeit errichtet hatte. Meine zwei Gefährten schienen nichts von der kleinen Unterkunft zu wissen. Dort konnte ich mich zurückziehen, dort las ich oft in der Bibel und ließ meine Seele baumeln. Die biblischen Geschichten waren interessanter als ich dachte und trösteten mich oftmals. Voller Neugier las ich über die Entstehung der Welt. Über die Schwächen und Sünden der Menschen. Über die zehn Gebote. Über Gottes Hilfe und die Hoffnung der Menschen. Ich erwischte mich dabei, wie ich zu mir selbst sagte „Du musst viel bewusster mit deinem Leben umgehen … Du musst dir Zeit zur Muße, zum Nachsinnen und zur Dankbarkeit geben.“
Meistens kam ich mit einem beklommenen Gefühl wieder zurück in unser Fort. Vor mir standen alle Dinge, die wir gerettet hatten. Immer mehr wurde mir bewusst, was für ein Geschenk jedes einzelne Stück war. Wir waren reich! Unendlich reich! Egal ob Axt, Säge oder Bohrer, ob Hängematte oder Bettzeug … jedes Ding war hier in der Wildnis von unschätzbarem Wert. Jedes trug auf seine Weise dazu bei, uns das Überleben zu sichern und die so hoffnungslos erscheinende Lage zu erleichtern. Ich empfand eine tiefe, nie gekannte Dankbarkeit. Die Kisten mit dem Proviant bedeuteten mir besonders viel. Wenn ich daran dachte, wie selbstverständlich früher für mich jede Mahlzeit war. Wie ich das Feinste gedankenlos hinuntergeschlungen hatte … Wenn ich mich erinnerte, wie ich früher schlichtweg übersah, dass viele Menschen nicht genug zum Sattwerden hatten. Hier nun war plötzlich jedes Körnchen Salz oder Zucker, eine Hand voll Mehl oder Reis, der einfachste Zwieback und all die anderen Dinge von köstlichem Wert. Ich gelobte mir nie wieder eine Mahlzeit als selbstverständlich hinzunehmen. Ich gelobte mir jeden Bissen bewusst zu mir zu nehmen.
Nach der mehrtägigen Unterbrechung begaben wir uns wieder an die Arbeit. Schnell lernten wir uns gegenseitig mit allen Fähigkeiten, aber auch Schwächen kennen. Bogdan war ein sehr geschickter Handwerker. Seine Kindheit erlebte er in Rumänien als ältester Sohn einer armen siebenköpfigen Familie. Da sein Vater recht früh bei einem Verkehrsunfall verunglückte, musste er allerlei Arbeiten nachgehen um seine Mutter mit dem Durchbringen der Familie zu unterstützen. Leider war er an sich ein sehr verschlossener Typ, der kaum Gefühle zeigte. Mit „Robinson“ dagegen konnte man über Gott und die Welt reden. Er war aufgeschlossen und sprach mir immer wieder Mut zu, wenn ich kurz davor war zu verzweifeln. Ich hätte mir einen Vater wie ihn gewünscht. Aufgewachsen war er, wie der Namen schon vermuten lässt in Skandinavien. Genauer gesagt in Schweden. Aus den vielfältigen Gesprächen mit ihm erfuhr ich, dass er sehr sportbegeistert ist. Er erzählte, dass er für sein Leben gerne Fußball gespielt hatte. Und das ziemlich erfolgreich. In der A-Jugend spielte er beim schwedischen Erstligisten Malmö FF. Er war Mannschaftskapitän und auf dem Sprung in die erste Mannschaft. Stand also kurz davor Profi zu werden. Jedoch machte ihm damals ein Kreuzbandriss einen Strich durch die Rechnung. Bogdan beteiligte sich an sehr wenigen Gesprächen. Aber wenn es um sportliche Dinge ging, war er stets dabei. In seiner Schulzeit hatte er seine Liebe zum Volleyball entdeckt, doch durch die familiäre Situation keine Zeit für Hobbys. Erst nachdem er als Gastarbeiter nach Hamburg kam, begann er wieder im Verein Volleyball zu spielen. Ich muss gestehen, dass sich mein Interesse an Sport sehr in Grenzen hielt. Da war ich doch eher der musische Typ. Was hätte ich dafür gegeben, eine Ukulele bei mir zu haben. Unsere Abendlichen Lagerfeuer waren inzwischen beinahe ein alltägliches Ritual. Ab und an sangen wir sogar zusammen am Feuer und da ich wie gesagt keine Ukulele hatte, begleitete ich unser Brummen mit einer Art Trommel. Diese baute ich aus primitivsten Mitteln, die ich im Busch fand. Robinson war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler und so lauschten wir auch an diesem Abend gespannt einer weiteren Erzählung. Irgendwann bemerkte ich, dass der beinahe verschollene Arko sich seelenruhig mit ans Feuer gesetzt hatte. Er sah ziemlich zerzaust und abgemagert aus. Erst bei diesem Anblick, fragte ich mich selbst, wie ich inzwischen aussah – ob ich ihm ähnelte?